Die sexuelle Selbstbestimmung beim sexuellen Missbrauch von Jugendlichen
Beim Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen nach § 182 StGB kommt es häufig darauf an, ob die fehlende Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung ausgenutzt wurde oder nicht. Dies ist in vielen Fällen maßgeblich entscheidend für die Frage: Freispruch oder Verurteilung.
In einer aktuellen Entscheidung hat sich der Bundesgerichtshof mit der Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung Jugendlicher beschäftigt, nachdem das Landgericht die fehlende Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung allein aufgrund des Alters der Jugendlichen angenommen hat.
Der 35 Jahre alte Angeklagte hatte sich in einem Chatraum als 18-jähriger ausgegeben und unteranderem mit der 15-jährigen Nebenklägerin Kontakt aufgenommen. Im weiteren Verlauf hatte der Angeklagte die Nebenklägerin mit einem vermeintlichen Freund bekanntgemacht, wobei sich später herausstellte, dass dies der Angeklagte selbst unter einem anderen Pseudonym war. Die Nebenklägerin traf sich daraufhin mehrmals mit dem Angeklagten, den sie für dessen Freund hielt. Bei den Treffen kam es auch zu Geschlechtsverkehr, wozu der Angeklagte sie unter dem ersten Pseudonym ermutigte.
Das Landgericht nahm bei der Nebenklägerin die fehlende Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung aufgrund ihres jungen Alters und der Tatsache an, dass sie psychisch labil und bisher keine sexuellen Erfahrungen gemacht hatte. Aufgrund dessen verurteilte das Landgericht den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs Jugendlicher zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und 5 Monaten. Dagegen wehrte sich der Angeklagte gemeinsam mit seinem Rechtsanwalt mittels Revision und bekam Recht.
Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs kann die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung nicht allein auf das Alter der Geschädigten gestützt werden. Zwar liegt das Fehlen der Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung bei Jugendlichen nahe, es bedarf jedoch stets einer Einzelfallbetrachtung. Das Landgericht hätte konkrete Feststellungen zur geistigen und seelischen Entwicklung der Jugendlichen treffen müssen, um anhand dessen festzustellen, ob sie in der Lage war, die Bedeutung und Tragweite der konkreten sexuellen Handlungen zu überblicken. Auch muss sich der Täter die Unerfahrenheit der Jugendlichen bewusst zu Nutze machen. Davon ist bei einer von gegenseitiger Zuneigung geprägten Liebesbeziehung nicht auszugehen.
Das Urteil wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Die neue Jugendkammer wird sich nun mit der Beziehung des Angeklagten und der Nebenklägerin auseinandersetzen müssen und Feststellungen zur Qualität dieser treffen. Erneut zeigt sich hier, dass insbesondere im Sexualstrafrecht ganz spezielle Einzelfallfragen über den Ausgang eines Verfahrens entscheiden können.
BGH, Beschluss vom 10. Juli 2020 – 1 StR 221/20